Vielfalt als regionalwirtschaftliches Potential

Bernhard Perchinig

Statement zur Sitzung der Arbeitsgruppe „Regional und Wirtschaftspolitik“,
BKA, Wien, 28.6.2010

Die Statistik Österreich publizierte letztes Jahr die Bevölkerungsvorausschau für Österreich bis 2050. Diese sagt für Österreich ein deutliches Bevölkerungswachstum voraus. Nach Bundesländern differenziert gibt es zwei Spitzenreiter, nämlich Wien und Niederösterreich, und ein breites Mittelfeld. Die beiden Bundesländer mit großen gemischtsprachigen Gebieten, das Burgenland und Kärnten, zeigen eine widersprüchliche Entwicklung: Das Burgenland liegt im oberen Drittel dieses Mittelfeldes und wird bis 2050 deutlich an Bevölkerung zunehmen. Die Bevölkerungszahl Kärntens stagniert hingegen bzw. wird sogar abnehmen.

In beiden Bundesländern ist jedoch die Alterung der Bevölkerung überdurchschnittlich, sie werden 2050 den höchsten Anteil aller Bundesländer an Über 60 Jährigen aufweisen. Diese Alterung wird im Burgenland teilweise durch internationale Zuwanderung gemildert, in Kärnten können Binnenwanderungsverluste und eine negative Geburtenbilanz nicht kompensiert werden. Die Bezirke mit der höchsten Bevölkerungsabnahme und der höchsten Alterung sind meist auch jene Bezirke, die allgemein als das „Hauptsiedlungsgebiet“ der Volksgruppen ausgewiesen sind. Die Bevölkerungsabnahme verdankt sich sowohl niedrigen Geburtenziffern wie auch der Binnenmigration in die Städte in und außerhalb des Bundeslandes.

Sozialer Wandel und Urbanisierung

Dies führt zur ersten Feststellung: Die Idee von Volksgruppen mit bestimmten „Hauptsiedlungsgebieten“ stammt aus den späten 1950er und 1960er Jahren, in denen sowohl das Burgenland wie Kärnten noch stark agrarisch strukturiert waren und Mobilität die Ausnahme war. Die Volksgruppenkultur war damals vor allem bäuerlich und dörflich geprägt, die Elitenbildung durch die traditionellen Bildungsberufe Arzt, Anwalt/Richter und Lehrer bestimmt. Diese Berufe wurden und werden vor allem in staatlichen oder staatsnahen Einrichtungen ausgeübt, deren Standorte im Wesentlichen politisch bestimmt werden.

Albert F. Reiterer hat in den frühen 1980er Jahren in seinem Buch „Doktor und Bauer“ den Bildungsaufstieg der Kärntner Slowenen analysiert und auf eine zweigipfelige soziale Struktur dieser Volksgruppe – einen überdurchschnittlichen Anteil von Bauern auf der einen und Akademikern auf der anderen Seiten bei einem weitgehenden Fehlen einer Arbeiter- und Angestelltenschicht – hingewiesen. Würde man diese Analyse heute wiederholen, so müsste man sie „Doktor und Mag. (FH)“ betiteln – die Maturanten- und Akademikerquote ist bei den Volksgruppen, insbesondere bei den Kärntner Slowenen und den burgenländischen Kroaten und Ungarn deutlich höher als im Bevölkerungsschnitt. Neben den „alten“ Bildungsberufen findet sich heute aber auch ein starkes und wachsendes Segment der modernen technisch-administrativen Intelligenz. Das bäuerliche Element verlor, so wie in ganz Österreich, an Bedeutung, ohne jedoch gänzlich zu verschwinden.

Diese moderne technisch-administrativen Intelligenz arbeitet vor allem in der Privatwirtschaft. Anders als im staatlichen Bereich, wo durch das Aufrechterhalten von zweisprachigen Schul- oder Gerichtsstandorten auch im ländlichen Raum für die Bildungsberufe Arbeitsplätze existieren, die eine gute Kenntnis der Volksgruppensprachen verlangen und die daher auch entsprechend qualifizierten Volksgruppenangehörigen die Möglichkeit bieten, im traditionellen Siedlungsgebiet zu verbleiben, ist dieser Weg im privatwirtschaftlichen Bereich kaum denkbar. Wirtschaftliche Kalküle, darunter prominent Zentrumsnähe und Nähe zu Hauptverkehrsachsen sind hier die wesentlichen Entscheidungsfaktoren. Die Arbeitsplätze für die technisch-administrative Intelligenz sind daher deutlich stärker zentralraumgebunden als die im öffentlichen Sektor. Auch die Nachfrage nach Sprachkenntnissen in den Volksgruppensprachen ist, da stark branchenabhängig, nicht im gleichen Maß steuerbar und flächendeckend wie im staatsnahen Bereich.

Wirtschaftliche Überlegungen sind aber auch für die Einzelnen entscheidungsrelevant: Das tägliche Pendeln aus z.B. Eisenkappel/Železna Kapla nach Klagenfurt/Celovec ist nicht nur teuer, sondern kostet auch viel Zeit und Energie, die durch keine Pendlerpauschale abgegolten werden. Insbesondere wenn auch der Partner/die Partnerin in Klagenfurt/Celovec lebt und arbeitet und/oder Kinder täglich in den Kindergarten oder die Schule gebracht werden wollen, wird eine Wohnung in oder ein Haus in der näheren Umgebung von Klagenfurt/Celovec die attraktivere Option, das Haus oder die Wohnung in Eisenkappel/ Železna Kapla werden zum Wochenenddomizil und irgendwann vielleicht überhaupt verkauft. Die Abwanderung der technisch-administrativen Intelligenz in die Städte und damit die Urbanisierung der Volksgruppen scheint ein im Wesentlichen irreversibler Prozess zu sein. Zu der regionalen Abwanderung tritt die überregionale Binnenmigration nach Graz, Wien und andere größere Städte in- und außerhalb Österreichs.

Diese Entwicklung ist eine Herausforderung für die Volksgruppen, sollte jedoch nicht nur Anlass zur Klage sein. Ich denke, es braucht eine Neureflexion der Bedeutung von Mehrsprachigkeit und interkultureller Kompetenz für die Region, um Antworten auf die damit verbundenen Fragen zu finden.

Betrachtet man die soziologische Realität der österreichischen Volksgruppen, so ist ihr wesentlicher kultureller Marker die Zweisprachigkeit. Volksgruppenzugehörigkeit heißt heute vor allem, über eine größere Sprachkompetenz zu verfügen als die Mehrheitsbevölkerung. Dieser Aspekt wird auch in den meisten regionalwirtschaftlichen Analysen und Operationellen Programmen erkannt und – in unterschiedlicher Intensität – als regionales Potential angesprochen.

Mehrsprachigkeit und interkulturelle Kompetenz

So bedeutsam dieser sprachliche Fokus auch ist, so schildert er doch nur einen Teilaspekt und erweckt möglicherweise unrealistische Hoffnungen. Die Kenntnis einer Volksgruppensprache ist zweifellos ein Vorteil in allen Berufen und Branchen mit engen Verbindungen zu den österreichischen Nachbarländern oder auch zu Ländern, in denen die Volksgruppensprachen als Brückensprachen genutzt werden können. Doch geben wir uns keiner Illusion hin: Die Lingua Franca im internationalen Wirtschaftsleben ist Englisch, gute Slowenisch-, Kroatisch- oder Ungarischkenntnisse können ein verhandlungsfähiges Englisch nicht ersetzen, sind aber eine gefragte Zusatzqualifikation. Die regionalen Leitbetriebe der in Kärnten oder im Burgenland angesiedelten internationalen Unternehmen sind zudem global tätig. Dienstreisen führen eher nach Asien, Lateinamerika oder in die USA als nach Ost- und Südosteuropa, dem „Heimatgebiet“ der Volksgruppensprachen.

Wird das regionale Entwicklungspotential der Zweisprachigkeit also überschätzt? Ich denke, ja, wenn es auf die Sprache reduziert, jedoch nein, wenn Zweisprachigkeit als Element von interkultureller Kompetenz verstanden und diese in den Vordergrund gerückt wird: In einer zweisprachigen Familie und einem die Zweisprachigkeit fördernden Schulsystem aufzuwachsen, bedeutet nicht nur ein Mehr an Sprachfähigkeit, sondern ist auch eine hervorragende Basis für die Entwicklung interkultureller Kompetenz, einer Metaqualifikation, die im internationalen Wirtschaftsleben zunehmend an Bedeutung gewinnt.

Was ist unter „Interkultureller Kompetenz“ zu verstehen und was hat sie mit Mehrsprachigkeit zu tun?

Der Soziologe Ulrich Beck hat 1997 die These vom Ende der „Ersten Moderne“ aufgestellt. Diese war durch eine weitgehende Deckungsgleichheit von Gesellschaft und Kultur charakterisiert, während eine Vielfalt sich überschneidender und überlappender Vernetzungen die heutige Welt präge:

„Globalisierung stellt eine Grundprämisse der Ersten Moderne in Frage, nämlich die Denkfigur, die A. D. Smith ‘methodologischen Naturalismus’ nennt: Die Konturen der Gesellschaft werden als weitgehend deckungsgleich mit den Konturen des Nationalstaats gedacht. Mit Globalisierung in all ihren Dimensionen entsteht demgegenüber nicht nur eine neue Vielfalt von Verbindungen und Querverbindungen zwischen Staaten und Gesellschaften. Viel weiter gehender bricht das Gefüge der Grundannahmen zusammen, in denen bisher Gesellschaften und Staaten als territoriale, gegeneinander abgegrenzte Einheiten vorgestellt, organisiert und gelebt wurden. Globalität heißt: Die Einheit von Nationalstaat und Nationalgesellschaft zerbricht; es bilden sich neuartige Macht- und Konkurrenzverhältnisse, Konflikte und Überschneidungen zwischen nationalstaatlichen Einheiten und Akteuren einerseits, transnationalen Akteuren, Identitäten, sozialen Räumen, Lagen und Prozessen andererseits“ (Beck 1997, S.46)..

War die „Erste Moderne“, deren Höhepunkt in den großen westlichen Industriestaaten in den 1960er und 1970er Jahren überschritten wurde, durch den Glauben an stabile Strukturen und deren Steuerbarkeit, durch Homogenität als gesellschaftliches Ideal und Integration über Massenkonsum gekennzeichnet, so zeichnet sich die im Globalisierungskontext aufkommende „Zweite Moderne“ durch ständigen institutionellen Wandel, den Verlust der Steuerbarkeit sozialer Prozesse, eine hohe Veränderungsdynamik sowie die Notwendigkeit zur Akzeptanz von und dem produktiven Umgang mit Gegensätzen aus (Beck 1997, S. 54ff.).

Forderte die „Erste Moderne“ einen auf Konkretheit, disziplinäre Abgrenzung und formale Logik gerichteten Denkstil, so braucht es in der „Zweiten Moderne“ zusätzlich Prozessdenken, Ambiguitätstoleranz und ein tiefes Verständnis von Selbstorganisationsprozessen, um erfolgreich zu sein.

Diese Beschreibung der Anforderung der „Zweiten Moderne“ korreliert deutlich mit dem Kern der verschiedenen Definitionen interkultureller Kompetenz. Diese wird allgemein als „metakulturelle Prozesskompetenz“ (Beneke 1999, S.71) gesehen und als Fähigkeit beschrieben, Kommunikationsprozesse unter Einbeziehung der kulturspezifischen Variation in Bezug auf Kommuni¬kationsregeln, Arbeitsstile, Wertvorstellungen etc. aktiv zu gestalten und im Umgang mit Angehörigen einer „fremden“ Kultur eine „dritte Perspektive“ (third culture perspective) jenseits der einzelnen Kulturen zu entwickeln. Diese dritte Perspektive stellt die eigenen Selbstverständlichkeiten in Frage und ermöglicht so die Reflexion der eigenen kulturellen Prägungen und die gemeinsame Entwicklung neuer Perspektiven und Weltsichten, und damit Innovation.

Interkulturelle kompetente Personen wissen, dass hinter auf den ersten Blick gleichen kulturellen Oberflächen (percepts) unterschiedliche Tiefenstrukturen (concepts) stehen können und sind in der Lage, Handlungszusammenhänge auf unterschiedliche kulturelle Referenzrahmen zu beziehen und kulturübergeifend Kommunikationsnetzwerke zu erhalten. Offenheit, Flexibilität und die Fähigkeit zur Selbstreflexion und Metakommunikation kennzeichnen interkulturell kompetente Personen. Aufgrund ihrer Fähigkeit, Situationen aus mehreren Blickwinkeln zu analysieren, sind sie die bevorzugten Träger gesellschaftlichen Wandels und das Ferment von Entwicklung. Alle großen Konzerne und öffentlichen Institutionen haben die Bedeutung interkultureller Kompetenz inzwischen erkannt und entsprechende Programme des Diversity – Managment entwickelt.

Genau diese Fähigkeiten korrelieren eng mit den Metakompetenzen, die durch zweisprachige Erziehung entwickelt werden: In einem fördernden Umfeld zweisprachig sozialisierte Kinder entwickeln früher als andere ein Verständnis für den Zeichencharakter von Sprache und die Relativität von sprachgebundenen Konzepten, und sie sind besser als Einsprachige in der Lage, die unterschiedlichen kulturellen Kontexte von Begriffen zu verstehen (Brizic 2006).

Wie eine Reihe rezenter Studien (Bialystock, Craik, Klein, Viswanathan 2004; siehe auch die Auflistung Liste in Feng, Bialystock, Diamond 2009) gezeigt hat, entwickeln Kinder, die zweisprachig aufwachsen, auch einen höheren Kompetenzlevel bei den so genannten „exekutiven Funktionen“, also jenen Hirnfunktionen, die dazu nötig sind, um Wichtiges von Unwichtigem zu trennen, aus einer Vielfalt von Informationen die relevanten herauszufinden und kompetent Entscheidungen zu treffen. Bilingual aufwachsende Kinder sowie Erwachsene, die bilingual aufwuchsen, zeigen eine höhere kognitive Flexibilität als Monolinguale und schneiden bei Tests, bei denen es darum geht, widersprüchliche Aufmerksamkeitsanforderungen zu erfüllen, besser ab (Carlson, Meltzoff 2008). Ebenso gibt es Hinweise darauf, dass die Gedächtnisleistung bei bilingual sozialisierten Menschen höher ist als bei Monolingualen. Diese Fähigkeiten können zudem im Lauf des Lebens erhalten zu bleiben (Bialystock/Martin 2004).

Zweisprachige Sozialisation scheint also genau jene Fähigkeiten zu fördern, die zentral für die Ausbildung interkultureller Kompetenz sind. Interkulturelle Kompetenz, und nicht so sehr die Sprachkompetenz per se, ist auch die wirtschaftsübergreifend nachgefragte Qualifikation, insbesondere auch bei den in der Region angesiedelten internationalen Konzernen, die in wachsendem Maß zu den Arbeitgebern der aus der Volksgruppe stammenden technisch-administrativen Intelligenz werden. Eine langfristig orientierte Regionalentwicklungspolitik ist daher gut beraten, Zweisprachigkeit vor allem auch als „breeding ground“ für interkulturelle Kompetenz zu begreifen und diesen regionalen Standortvorteil zu entwickeln und zu nutzen.

Erhaltung und Entwicklung

Was bedeutet dieses Szenario aber für die reichhaltigen kulturellen Traditionen und die dörfliche Lebenswelt?

In den traditionellen Siedlungsgebieten der Volksgruppen findet sich bis heute eine nachhaltige Pflege kultureller Traditionen und ein reichhaltiges Netzwerk von Kulturvereinen und anderen Institutionen, die das Niveau des kulturellen Dorflebens weit über das Übliche heben und damit das soziale Leben am Land reich und lebendig halten und die Alltags- und Festkultur der zweisprachigen Regionen prägen. Damit leisten die Kulturvereine unschätzbare Arbeit nicht nur für den Erhalt der kulturellen Traditionen und der Volksgruppensprachen auf hohem Niveau, sondern auch für die kulturelle Identität der Regionen und die Identitätsbildung des/r Einzelnen.

Entsprechend der historischen Entwicklung liegen die Wurzeln dieser kulturellen Traditionen in einer bäuerlichen Lebenswelt. Diese hat nur mehr wenige direkte Verbindungen zu heutigen Lebensbezügen und Lebenswelten und wird daher vor allem noch in der Festkultur als „Brauchtum“ gelebt, das vom Alltag schon recht weit entfernt ist. Für viele junge Menschen ist diese Form der folklorisierten Volksgruppenkultur weniger attraktiv als die Angebot des „mehrheitlichen“ mainstream. Eine primär auf die Erhaltung kultureller Traditionen und traditioneller Volksgruppenidentität setzende Strategie führt daher in eine Sackgasse, da sie kaum Angebote für die Herausforderungen unserer Lebenswelt bietet.

Vor allem im Bereich des Theaters, der Literatur, Musik und Wissenschaft gab es in Kärnten und im Burgenland in den letzten Jahrzehnten aber auch eine Entwicklung, die deutlich über die Erhaltung der kulturellen Traditionen hinausreicht und neue Wege in Richtung einer modernen, international und interkulturell orientierten Kulturarbeit geht – so etwa das Beispiel der Theatergruppe „Trotta Mora“ aus St. Jakob im Rosental/Šentjakob v Rožu, die ein mehrsprachiges und interkulturelles Theater entwickelt hat, das international Anerkennung findet, oder die „KUGA“ in Großwarasdorf/Veliki Borištof, deren Kulturprogramm Tradition und Moderne kreativ verknüpft, das Ungarische Medien- und Informationszentrum UMIZ in Unterwart/ Alsóőr mit seiner internationalen wissenschaftlichen Vernetzung, oder das Roma-Service in Oberwart, das neue Wege der Roma-Kulturarbeit geht.

Gemeinsam ist diesen Initiativen, nicht in die Falle der Folklorisierung und der Identitätspolitik zu tappen, sondern die traditionelle Volksgruppenkultur als Ferment für neue Formen der Kulturproduktion zu nutzen, die sich als regional verankerte Projekte an der Entwicklung in den und den Standards der internationalen Zentren orientieren.

In der Literatur hat sich für diese Strategie, die Verknüpfung des Lokalen mit dem Globalen nach dem Motto „best of both worlds“, der Begriff der „Glokalisierung“ eingebürgert. Die oben genannten Beispiele sind typisch für den Schritt von der Zweisprachigkeit heraus in die Interkulturalität und die damit einhergehende Verknüpfung von regionalen Ressourcen mit globalen Entwicklungen.

Diese Projekte sind von der Regionalentwicklung allerdings noch kaum entdeckt worden und haben noch nicht die Sichtbarkeit, die sie verdienen. Dort, wo sich in Regionalentwicklungsprogrammen überhaupt Referenzen zu den Volksgruppen finden, bleiben diese meist auf Zweisprachigkeit beschränkt oder instrumentalisieren die traditionelle Volksgruppenkultur für den kulinarischen und Kulturtourismus. Die Rolle von querliegenden, auch aufmüpfiger Kulturprojekten wird – anders als in der Stadtentwicklungsdiskussion, in der die „Creative Industries“ seit langem eine bedeutende Rolle spielen – in der Regionalentwicklungsdebatte erst am Rande reflektiert. Sie werden fälschlicherweise oft als „Nischenprojekte“ der „Alternativkultur“ wahrgenommen und ihr Potential als Ferment einer interkulturellen Weiterentwicklung der traditionellen Volksgruppenkultur wird noch nicht ausreichend erkannt.

Interkulturelle Kompetenz als Standortfaktor

Ich denke, es ist höchst an der Zeit, jenseits der Ignoranz einerseits und der Folklorisierung andererseits die in der Region vorhandene interkulturelle Kompetenz als Standortfaktor und regionale „Unique Selling Proposition“ (USP) zu entdecken und zu entwickeln:

Zweisprachigkeit bedeutet nicht automatisch immer ein mehr an interkultureller Kompetenz, bietet jedoch ausgezeichnete Voraussetzungen für ihre Entwicklung. Wie die oben genannten Beispiele zeigen, gibt es auch konkrete Anknüpfungspunkte für neue Zugänge, die die regionale kulturelle Vielfalt als Ausgangspunkt und Ferment für neue Formen der Kulturproduktion nutzen und so den regionalen Rahmen weit überschreiten.

Wenig entwickelt und genutzt wird jedoch das interkulturelle Potential der Mehrsprachigkeit außerhalb des Kulturbereichs: Hier gilt es, stärkere Verbindungen mit regionalwirtschaftlichen Entwicklungsstrategien herzustellen und zu verstehen, dass ein die Zweisprachigkeit positiv bewertenden und fördernden Umfeld optimale Voraussetzungen für die Entwicklung von interkulturellen Kompetenzen bietet, die für das Wirtschaftsleben im 21. Jahrhundert zentral sind.
Dies verlangt von der Mehrheitsbevölkerung ein Umdenken im Sinn einer höheren Wertschätzung der Zweisprachigkeit und einer mentalen Öffnung über die Grenzen des Landes hinaus, und von den Volksgruppenangehörigen ein Verständnis von Zweisprachigkeit als zentrales Element der global immer wichtiger werdenden Fähigkeit des produktiven Umgangs mit kultureller Vielfalt. Die betroffenen Bundesländer sind schließlich gefordert, in ihrer Selbstwahrnehmung und Selbstdarstellung dem interkulturellen Potential ihrer Bevölkerung ausreichend Raum zu geben.

Die Bewusstseinbildung für die Bedeutung interkultureller Kompetenz in der Bevölkerung ist eine zentrale Aufgabe für die regionalpolitischen Institutionen, aber auch für die Volksgruppen selbst, deren Angehörigen dabei die Rolle der regionalen interkulturellen Eliten zukommt.

Eine zukunftsorientierte und zukunftsfähige Regionalpolitik wird in einem deutlich stärkeren Ausmaß als heute das interkulturelle Potential der Region entwickeln und als Ressource einbinden müssen. Umgekehrt sind auch die Volksgruppen gefordert, sich als Ferment der wirtschaftlichen Entwicklung der Region zu begreifen und sich in die Regionalentwicklung einzubringen. Denn nicht nur diese ist vermehrt darauf angewiesen, das in der Region vorhandene interkulturelle Potential zu mobilisieren und einzubinden, auch die Volksgruppen brauchen für ihre Zukunft eine erfolgreiche Regionalentwicklung.

Ich hoffe, dass meinen Ausführungen einen Anstoß für die Diskussion gegeben haben und danke für Ihre Aufmerksamkeit.

Literatur

Beck, Ulrich (1997): Was ist Globalisierung? Frankfurt/Main (suhrkamp), S. 46.

Beneke, Jürgen (1999): Vom Import-Export Modell zur regional-komplementären Zusammenarbeit. In: Jürgen Bolten (Hg.) (1999): InterAct. Ein wirtschaftsbezogenes interkulturelles Planspiel. Sternenfels (Verlag Wissenschaft und Praxis), S.61-82.

Bialystock, Ellen; Fergus I.M. Craik; Raymond Klein; Mythili Viswanathan (2004): Bilinguialism, Ageing, and Cognitive Control: Evidence from the Simon Task. In: Psychology and Aging 2004, Vol. 19/2, p. 290 – 303.

Bialystock, Ellen; Michelle M. Martin (2004): Attention and inhibition in bilingual children: evidence from the dimensional change card sort task. Developmental Science Vol 7/3, 325 – 339.

Bolten, Jürgen (2007): Interkulturelle Kompetenz. Thüringen (Landeszentrale für politische Bildung), S. 110ff.

Brizic, Katharina (2007): Das geheime Leben der Sprachen. Gesprochene und verschwiegene Sprachen und ihr Einfluss auf den Spracherwerb in der Migration. Münster (Waxmann)

Carlson, Stephanie M.; Andrew N. Meltzoff (2008): Bilingual experience and executive functioning in young children. Developmental Science Vol 11/2, 282 – 298.